Ethik in Corona-Zeiten

Seit Beginn des Jahres vertrete ich die EKD in der Thematischen Gruppe "Science, New Technology and Christian Ethics" bei der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK). Die Gruppe wollte nach einer ersten Videokonferenz Ende Januar mit einem Treffen Mitte März in Straßburg ihre Arbeit "so richtig" aufnehmen. Doch dazu kam es aus den bekannten Gründen nicht. Stattdessen trafen wir uns am ursprünglich geplanten Termin dann in größerer Runde – wiederum zu einer Videokonferenz.

Schnell wurde klar, dass der bioethische Schwerpunkt, den die Arbeit der Vorgängergruppe in den Jahren zuvor hatte, durch die Covid-19-Pandemie ganz anders akut wurde, als jemand das vor Jahresfrist hätte voraussehen können. Wir brauchten nicht lange, um übereinzukommen, dass die Auswirkungen der Corona-Krise auf das gesellschaftliche Leben und die kirchliche Arbeit in den nächsten Monaten ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein muss. (Daneben wird sich die Gruppe mit den ethischen Aspekten der Entwicklung Künstlicher Intelligenz, v.a. dem europäischen Approach eines dritten „werteorientierten“ Weges zwischen USA und China auseinandersetzen.)

In drei Videokonferenzen befassten wir uns seitdem mit dem Thema Covid-19: Nach einem Austausch zur Situation in den unterschiedlichen in der Gruppe vertretenen Ländern (Frankreich, Großbritannien, Italien, Griechenland, Niederlande, Dänemark, Estland, Serbien, Russland, Deutschland) identifizierten wir vier ethische Themen, die in der Situation virulent sind:
a) Ethische Entscheidungsfindung in Dilemmasituationen (Triage-Fragen der Katastrophenmedizin)
b) Ethische Güterabwägungen bei der Frage von „Exit-Strategien“ aus Lockdown bzw. Shutdown
c) Nationale Aktionen und internationale Zusammenarbeit auf europäischer Ebene bzw. darüber hinaus (Solidarität)
d) Stigmatisierung von Kranken bzw. bestimmten Gruppen (Sündenbock-Thematik: Ein Kollege aus dem Elsass berichtete von Beleidigungen gegenüber kirchlichen Vertreter*innen nachdem sich auf einer evangelikalen Veranstaltung in Mulhouse viele Menschen mit dem Virus identifiziert hatten.)

Interessant war, dass unsere Gruppe dann jedoch vor den ethischen Themen ein praktisch-theologisches Anliegen aufgriff und dazu ihr erstes – wenn auch kurzes – Papier produzierte: Nachdem in diesen Tagen im Westen wie im Osten Europas das Osterfest gefeiert wird, erstellte die Gruppe für die KEK und ihre Mitgliedskirchen eine kleine Stellungnahme "Reflections on Christian Communion in a Time of Physical Distancing and COVID-19". Darin werden verschiedene Möglichkeiten benannt, mit der Frage des Abendmahls in Zeiten physischer Distanz umzugehen: entweder in Form des Verzichts auf das Sakrament oder in Form digitaler Unterstützung der Feier des Abendmahls. Ich fand es - gegenüber mancher ängstlicher Diskussion um "ökumenische Rücksichten" zur gleichen Zeit in der deutschsprachigen Diskussion – bemerkenswert, dass die unterschiedlichen in der Gruppe vertretenen kirchlichen Traditionen, die verschiedenen Möglichkeiten nebeneinander gelten lassen konnten.

Auch wenn die Gruppe sich bei ihren nächsten Treffen eher mit den explizit ethischen Themen befassen wird, werden dabei wiederum geistliche Aspekte mit im Blick sein. Denn auch die Reflexion auf ethische Entscheidungsfindung und Güterabwägung wird in der aktuellen Situation die Aufgabe von Seelsorgerinnen und Seelsorgern mit in Blick nehmen: Das, was an anderer Stelle von Ethikern und Medizinern zu den Fragen gesagt ist, braucht die Gruppe nicht zu wiederholen. Stattdessen wird sie es mit dem zusammensehen, was in den einzelnen europäischen Ländern bereits an Ressourcen zur seelsorgerlichen Arbeit bereitsteht. Für den deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) ist dafür mit dem Webangebot www.covid-spiritualcare.com ein guter Anfang gemacht!