Wenn die Realität die Virtualität überholt

Buch von B. Pörksen
Bildrechte Hanser-Verlag

Es ist noch gar nicht lange her, da war von Viren, von rasanten Verbreitungskurven und von dynamischer Geschwindigkeit im Blick auf ganz andere Phänomene als Covid-19 die Rede: Für einen Artikel nahm ich in der vergangenen Woche Bernhard Pörksens lesenswertes Buch "Die große Gereiztheit" aus dem Jahr 2018 zur Hand. Immer wieder ist dort von "viral gehen" oder "Fieberschüben" zu lesen, wenn es gilt, die Dynamik sozialer Medien zu beschreiben. Beileibe nicht nur Pörksens Buch zeigt: Die Metaphern aus der Medizin haben sich in den vergangenen Jahren etabliert, um die exponentiellen Wirkungen der Kommunikation in sozialen Netzwerken zu beschreiben. Virus und Fieber: das klang – im öffentlichen Gespräch – bis vor kurzem eher nach der Beschreibung virtueller Phänomene des Computerzeitalters denn nach Gesundheitspolitik.

"Große Gereiztheit" und "kollektive Erregung" (Pörksen) entstammten in "postfaktischen" Zeiten den Untiefen des Internets und den Gesetzmäßigkeiten der Verbreitung von Gerüchten und häufig nicht faktenbasierter (Des-)Information. Die Schnelligkeit der Informationsverbreitung, ihr "virales" Tempo, steht im Konflikt mit der Suche nach Fakten, nach Objektivität, nach Wahrheit. "Information ist schnell. Wahrheit braucht Zeit." (Peter Glaser)

Kehrt Corona das nun alles um? Die Wahrheit – im Sinne der Faktizität der Zahlen von Kranken und Toten – erscheint viel schneller als die Information – im Sinne der Bewusstwerdung der Gefahr.
Zumindest setzt die Faktizität der schieren Zahlen (i.e. die darin abgebildete Realität von Tod und Leben) eine eigene Wirklichkeit und eine eigene Logik aus sich heraus: An die Stelle des Redens und des Überlegens (der Deliberation als der zeitintensiven Suche nach der Wahrheit) tritt das Handeln, um Leben zu schützen.

Erleben wir mit Covid-19 also die Wiederkehr des Zeitalters der Fakten und damit die Wiederlegung der postfaktischen Vorstellungen alternativer Wahrheiten? - In jedem Fall müssen in einer Demokratie die Fakten öffentlich überprüfbar sein. Deshalb ist es so wichtig wie sinnvoll, dass die Medienhäuser als "systemrelevant" eingestuft sind (ganz anders in China, wo diese Woche dreizehn nordamerikanische Korrespondenten des Landes verwiesen wurden).

In einer Hinsicht dürfte Covid-19 freilich eine Tendenz verstärken, die sich in der medialen Revolution der vergangenen Jahre bereits Bahn brach: Die Auflösung von Gewissheiten bezog sich vor Corona auf die zunehmende Unsicherheit, "was denn nun stimmt und wer denn nun mit welchen Absichten und Interessen spricht." (Pörksen, 42) Zu dieser Unsicherheit tritt nun die Erschütterung hinzu, dass der Mensch auch im 21. Jahrhundert die Welt nicht im Griff hat, sondern wir auch kollektiv auf existentielle Weise unheimlichen Mächten ausgeliefert sind.

Auf die Balance von Vertrauen und Kontrolle wird es ankommen in der nächsten Zeit, für jede*n Einzelne*n wie für Gesellschaften als Ganze. Nicht umsonst wird von kirchlicher Seite in diesen Tagen das Wort aus 2. Timotheus 1,7 viel zitiert: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sonder der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Die ethischen Dilemmata zwischen individuellem Lebensschutz und wirtschaftlichem Stillstand, zwischen Leben hier und Leben da, rufen nach diesem Geist.